Die Bauern (nach Malewitsch)

Die Bauern (nach Malewitsch) – Ein skulpturales Echo

Interview mit Gundula Wolter (Auszug)

 

GW: Wie Du es in Deiner Projektskizze zu „Die Bauern  – The Peasants  – Крестьяне“ formulierst, konzentrierst Du Dich in Deinem Schaffen auf bestimmte „Wendepunkte in der Geschichte“, mit denen Du Dich dann künstlerisch auseinandersetzt. Bei Deinem neuen Projekt sind es die Jahre zwischen 1928 und 1935, in denen Kasimir Malewitsch zu figürlichen, bildhaften Darstellungen von Bäuerinnen und Bauern zurückkehrt, wenn auch mit modifizierten Stilmitteln. Warum hat gerade dieser mehrdeutige und in Fachkreisen kontrovers diskutierte ‚zweite Bauernzyklus‘ Malewitschs Dein Interesse auf sich gezogen?

 

AH: Mich haben zuerst vor allem die Malereien angezogen, die intensiven chromatischen Schattierungen und Verläufe der Kleidung zwischen Ungegenständlichkeit und Figuration. Auf den Bildern standen diese Bauern zwar einsam und gesichtslos in den Feldern, erinnerten aber in ihrer Darstellung an den Glanz russischer Ikonen. Diesen Widerspruch fand ich interessant. Wie lässt sich die Verbundenheit mit der Natur, die die Bauern verkörperten und die moderne Technologie (damals die Industrialisierung der Landwirtschaft) zeitgenössisch übersetzen?

Das Sujet der Bauern zieht sich ja durch Malewitschs gesamtes Werk. Er war in der Ukraine aufgewachsen, in seiner Autobiografie erzählte er, wie er sich schon als Kind mit den Bauern identifizierte. Er schwärmte für ihre Trachten, ihr Handwerk, ihre Feste. Doch dann veränderte sich das Land drastisch unter Stalin. Es sind die Jahre, in denen die Landwirtschaft verstaatlicht wurde. In der Kunst wird der sozialistische Realismus verordnet. Das Sujet der Bauern war also politisch stark besetzt. Malewitschs späte Darstellungen sind eine letzte Hommage an die Bauern, deren Kultur und Identität durch die Zwangskollektivierung zerstört wurde.

 

GW: Malewitsch entwickelte in den Jahren 1912/13 den ‚Suprematismus‘, eine erstmals allein auf Empfindungen basierende, durch und durch ungegenständliche Kunst. Mit seinem prominenten ‚schwarzen Quadrat auf weißem Grund‘ wollte der Künstler „die Empfindung der Gegenstandslosigkeit“ darstellen. Worauf führst Du seine Abwendung vom Ungegenständlichen hin zur neuerlichen Darstellung arbeitender Menschen um 1928 zurück?

 

AH: Malewitsch hat sich nach der suprematistischen Phase nach 1919 fast ausschließlich seiner theoretischen Arbeit zugewendet. Zwischen 1919 und 1927 hat er nicht gemalt, sondern an verschiedenen Instituten gelehrt. Als eine Abwendung würde ich es nicht bezeichnen, sondern als eine persönliche Entwicklung aufgrund der sich verändernden sozialen und politischen Verhältnisse – wobei er die Malerei nicht als Repräsentation gesellschaftlicher Verhältnisse sah, sondern jenseits des Historischen, an den Rändern der Geschichte. Gleichzeitig war für ihn das, was die Malerei weiterentwickelt, bereits als Verlust in sie eingeschrieben, da sie an eine Moderne gebunden ist, deren vollständige Realisierung damals zwar angekündigt, aber noch nicht umgesetzt worden ist. Für Malewitsch war die Malerei also Teil zweier sich widersprechender Narrative – einerseits der Eigengesetzlichkeit, d.h. der Abkehr vom Abbildhaften – andererseits der Bejahung des technischen Fortschritts, der sie vorantreibt. 1928 war es konkret der Konflikt zwischen Stadt und Land, der in der „Metallisierung der Roggenkultur“ (Anm. 1),  der Technologisierung der Landwirtschaft.

 

GW: Du erkennst in Malewitschs Gemälden von LandarbeiterInnen der Jahre 1928-1932 einen „suprematistischen Stil“. Gibt es für Dich in diesem Zyklus eine Verknüpfung des Figürlichen – der arbeitenden LandarbeiterInnen – mit davon losgelösten Empfindungen, eine Verbindung zwischen Konkretem und Abstraktem?

 

AH: Malewitsch benutzte den Begriff Abstraktion eigentlich nicht, sondern den der Gegenstandlosigkeit. Eine Welt, die dem scheinbar Objektiven, Messbaren die Empfindung gegenüberstellt. Seine Gedanken zur gegenstandslosen Welt hat er in seinem gleichnamigen Buch im Verlag des Bauhauses publiziert, das sich allerdings im Vorwort von ihm distanzierte, weil es sich dem zweckorientierten Konstruktivismus verbunden sah. Mich interessieren Malewitschs Darstellungen der Bauern vor allem, weil er in seiner Malerei beide Welten, die spirituelle, die der russischen Ikone, und die reale des arbeitenden Menschen mit seiner tiefen Verbundenheit zur Natur zusammenbringt.

 

GW: Deine Kleiderobjekte verweisen mit ihren klaren geometrischen Konturen auf Malewitschs Darstellungen von BäuerInnen nach 1928. Du willst in Deiner Arbeit die zweidimensionalen „blockhaften Silhouetten“ seiner Figuren „ins Skulpturale“ übersetzen. Wie und mit welcher Intention?

 

AH: Ich stellte mir vor, wie die Figuren auf einmal aus den Bildern in den realen Raum treten, aber trotzdem Erscheinungen bleiben. In Anlehnung an historische bäuerliche Kleidung, wie Tuniken, Westen und weite Hosen, aber auch an die Arbeits- und Funktionskleidung der russischen Avantgarde, die wiederum seit Jahrzehnten von der Mode zitiert wird, habe ich einfache Schnitte gewählt. Auf Malewitschs Bildern wirken die blockhaften Silhouetten durch die chromatischen Schattierungen sehr plastisch, irgendwie metallisch. Diesen malerischen Verlauf habe ich digital aufgerastert und mittels Siebdruckverfahren auf retroreflektiven Stoff gedruckt. Die jeweils individuellen Rasterverläufe wurden auf jedes einzelne Schnittteil handgedruckt. Dadurch, dass das Material einen speziellen, ‚metallischen‘ Glanz erzeugt, wirken die Figuren fast immateriell. Als Gesamtbild erscheinen sie wie Metallskulpturen. Sie symbolisieren das langsame Verschwinden einer bäuerlichen Kultur hin zur Normierung des Individuums und seines Lebensraums. Diese Figurengruppe stellte die erste von zwei Versionen dar.

 

GW: 1928/29 begann bekanntermaßen die Zeit des ‚großen Umbruchs‘, geprägt durch Gewalt, Terror, Schauprozesse, Kollektivierung der Landwirtschaft, als auch durch Visionen von einem modernen Arbeiter- und Bauernstaat. In welcher Weise nimmt Deine Arbeit Bezug auf den politischen Kontext, in dem Malewitschs ‚zweiter Bauernzyklus‘ entstand?

 

AH: Für die zweite Version dieser Arbeit habe ich andere Materialien eingesetzt, die den Verlust der kulturellen Identität der Bauern symbolisieren. Meine darüber parallel entstandene Publikation „Programmheft – Die Bauern (1927)“, die Bestandteil der gesamten Arbeit ist, zeigt sie im gleichnamigen Stück „Die Bauern (1927)“ zu Kostümen verarbeitet. Das Stück basiert auf einer imaginierten Zusammenarbeit zwischen Bertolt Brecht und Kasimir Malewitsch. Die Grenzen zwischen der Erzählung ihrer Begegnung, den Regieanweisungen und dem eigentlichen Stück verlaufen darin fließend. Die Publikation enthält das Fragment des Theatertextes, historische Quellentexte, Fotos der Kostüme, ein Schnittmuster und einen Einleger. Im Stück geht es um die Situation der Bauern und den Verlust ihrer traditionellen Strukturen durch die Industrialisierung und Zwangskollektivierung während des Stalinismus. Vor diesem historischen Hintergrund und der fiktiven Begegnung zwischen Brecht und Malewitsch werden die Kostüme aus traditionellen und technischen Materialien wortwörtlich reflektiert. Die Sichel, das Symbol des Kommunismus, trifft dabei auf die Faust, dem Symbol des Widerstands. Beide werden in freien, ornamentalen Kompositionen auf unterschiedliche Weise in die Kostümobjekte eingearbeitet. Durch den Akt der Aneignung und Neubesetzung der Symbole unterwandern sie die alte politische Zuschreibung und verschaffen sich einen neuen Bedeutungsfreiraum.

 

GW: In Deinem Projekt „The Peasants (after Malevich)“ spielen politisch konnotierte Symbole, und zwar die zwei bekanntesten und mehrdeutigsten – Sichel und geballte Faust – eine zentrale Rolle. Warum hast Du Dich für diese beiden historisch höchst ambivalenten, immer wieder neu kontextualisierten Sinnbilder entschieden?

 

AH: Die Sichel war ursprünglich – wie die Sense – ein Symbol für die Ernte, den Ablauf der Zeit, d.h. der jährlich wiederkehrenden Erntezeit und raschen Vergänglichkeit, und war daher ein verbreitetes Memento-mori-Symbol. Sehr unterschiedliche Bewegungen haben die geballte bzw. erhobene Faust wiederum durch eine bestimmte Farbgebung oder zusätzliche Elemente als Logo für sich in Anspruch genommen wie die Sozialistische Internationale, die Black Power Bewegung, die rechtsradikale White Power Bewegung, sowie die Frauenbewegung, die die Faust kombiniert mit dem Venussymbol besetzen. Alles in allem haben sich also die konträrsten Gruppierungen die Faust angeeignet. Widersprüche in Form von Überschreibungen und Verschiebungen sind somit Teil sich ständig verändernder sozialer Dynamiken und kultureller Prozesse, die im Bild und Symbol ihre Entsprechung finden.

 

GW: Du beziehst Dich in Deiner Konzeption auf Adolf Loos und seinen provokanten, bis heute vielzitierten Text „Ornament und Verbrechen“ (1908) und schreibst, dass, so bald Einzelheiten etwas bedeuten, „der Schmuck nicht mehr bloßes Ornament, sondern integraler Teil eines umfassenderen Sinns“ sei. Der Einsatz der von Dir auf die Kleider applizierten, politisch konnotierten Symbole folgt verschiedenen Mustern. Welche Botschaften sollen mit den verschiedenen Anordnungen, Reihungen und Gegenüberstellungen der Zeichen transportiert werden? Wofür steht diese Kontrastierung?

 

AH: Die Symbole wurden als Motive aus retroreflektierender Folie sowohl mit einem Lasercutter geprägt als auch mit einer programmierten Stanzmaschine ausgeschnitten und mittels Hitze so tief in das Gewebe gepresst, dass die grobe Jute und das Leinengewebe amalgamierten. Die glänzende Folie und das stumpfe Naturmaterial kontrastieren vor allem im Dunkeln, in dem nur noch die Symbole leuchten. Die Muster erinnern aus der Distanz an Stickereien auf Bauerntrachten oder an Ornamente auf liturgischen Gewändern. Aus der Nähe besehen bilden die Ornamente jedoch keine durchgängigen Muster, sie sind fragmentiert, gespiegelt und collagiert. So entziehen sie sich einer klaren Lesbarkeit, sie bleiben mehrdeutig respektive kryptisch. Das Vergangene und das Tradierte werden überschrieben und kehren in modifizierter Form wieder.

 

GW: Deine Kleiderinszenierungen sind für eine Präsentation in einem abgedunkelten Raum mit minimalem Lichteinfall konzipiert. Hierdurch wird ein bestimmtes Seherlebnis provoziert. Was willst Du damit erreichen?

 

AH: Die retroreflektierenden Materialien (Anm. 2) entfalten ihre volle Sichtbarkeit im Dunkeln. Zuerst ist da diese faszinierende Reflektion, in der sich der Betrachter schemenhaft spiegelt. Die Ornamente prägen sich wie im Blitzlicht als Nachbilder auf der Retina und ins Gedächtnis ein. Wie auch in meinen anderen Arbeiten ist das Material Träger von Zeitschichten.

In der Publikation „Programmheft – Die Bauern (1927)“ findet die Vorstellung im doppelten Sinne in der Vorstellung statt. Im Schlussbild steigen die Bauern aus dem Kornfeld, also aus ihrer Realität heraus auf die Bühne, wo sie den (Bühnen-)Boden beackern. Man fragt sich, wo die Grenze zwischen Realität und Fiktion während des Stückes verläuft. Dieser imaginäre Raum ist wichtig. In einer Ausstellungssituation werden die Exponate wie Trachten oder Kostüme in einem historischen Museum installiert. Zusammen ergeben sie ein Tableau – wie in der Publikation beschrieben. Der Betrachter wird im Ausstellungsraum durch seine Bewegung einen Sensor auslösen, der die im Dunkeln wie ein mechanisches Ballett reflektierenden Exponate zum Rotieren bringt. An die Bewegung ist programmiertes Licht gekoppelt. Ein Zufallsgenerator wird alle Variationen durchspielen. Wie im Museum gibt es Wandtexte und Texte auf Displays aus dem Programmheft – und auch einen Film.

 

GW: Das hier vorgestellte Projekt steht in einer Reihe von Dir in den letzten Jahren realisierten Projekten mit politischen Bezügen. Ich verweise hier insbesondere auf das Label und die gleichnamige Installation „Maison Tatline“, die den erstmalig in Serie produzierten Mantel von Vladimir Tatlin zeigte. In Deinem jüngst erschienenen Buch „Becoming Siren“ (Vexer Verlag 2020) verknüpfst Du die Kulturgeschichte der Sirenen mit dem Siren Suit, dem legendären Overall, der während des Zweiten Weltkriegs in England von Frauen getragen wurde. Was bedeutet das Projekt „Die Bauern“ für Dich?

 

AH: Mich interessiert, was ein Körper in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche „trägt“, und wie das Material zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Brücken schlägt. Der Auslöser ist immer ein Bild: Ein Gemälde, eine Zeichnung, eine Plastik oder eine Fotografie. Material und Form durchlaufen dabei Prozesse vor dem Hintergrund einer historischen Recherche, wobei Faktisches und Imaginiertes zu einem wandelbaren Gewebe verknüpft werden. Dabei verhält sich der Stoff bzw. das Material zu Form und Inhalt sprunghaft. Wie im Film können durch Schnitt und Montage verschiedene Zeiten neben der eigentlichen Filmdauer koexistieren.

Walter Benjamin schreibt in seinem Passagenwerk: „Nicht so ist es, daß das Vergangene sein Licht auf das Gegenwärtige oder das Gegenwärtige sein Licht auf das Vergangene wirft, sondern das Bild ist dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt.“ (Anm. 3) Für mich stehen Malewitschs Bilder der Bauern für eine solche Konstellation. 

 

Gundula Wolter ist promovierte Kunst- und Modehistorikerin und Gründungsmitglied von netzwerk mode textil e. V..

 

Anmerkungen

1 Simon, Baier, Ökonomie und Exzess. Malewitsch und das Überleben der Malerei. In: Malewitsch, Kasimir. Kasimir Malewitsch: Die Welt als Ungegenständlichkeit. Ostfildern 2014, S. 76 .

 

2 Ein Retroreflektor ist eine Vorrichtung, die einfallende elektromagnetische Wellen weitgehend unabhängig von der Einfallsrichtung sowie der Ausrichtung des Reflektors großteils in die Richtung reflektiert, aus der sie gekommen sind. Retro-reflektierende Folien werden aus Glaskugeln hergestellt. Die mikroskopischen Kugeln aus optischem Glas werden auf einer Seite mit Aluminium beschichtet, mit der Aluminiumseite nach unten angeordnet und dann auf das Material geklebt, um eine reflektierende Oberfläche zu schaffen, die nicht nur eine bessere Sichtbarkeit bietet, sondern auch den Effekt eines Hitzeschildes hat.

 

3 Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, Gesammelte Schriften, hrsg.v. R. Tiedemann u. Heinz Schweppenhäuser, Bd V, Frankfurt a. Main 1982, S. 578